Connect with us
Ein Verlag für »Tabus, Widersprüche und blinde Flecken«

Unternehmen

Ein Verlag für »Tabus, Widersprüche und blinde Flecken«

Im Vergleich zu 2023 wurden 2024 rund 7,7 Prozent mehr Sachbücher verkauft – nicht zuletzt auch dank des Buchs »Freiheit« von der ehemaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel. Wer sich in dieser großen Branche beweisen will, muss also neue Themen anschneiden – Themen, »die etwas auslösen«. Mit ihrem neuen Sachbuch-Verlag »Grau« wollen Jonas Konrad, der Geschäftsführer des Labels, und Karolina Timoschadtschenko, die Projektleitung, genau solche Inhalte unter die Leserschaft bringen. In unserem Interview erklären sie, warum sie bei ihren Autoren vor allem auf Influencer setzen und wie sich die Verlagsbranche in den letzten Jahren verändert hat.

Herr Konrad, Frau Timoschadtschenko, Sie bringen ein neues Label auf den Buchmarkt: Grau. Wieso haben Sie diesen Namen gewählt? Warum nicht Schwarz oder Weiß?

Jonas Konrad: Unser Label heißt Grau, weil wir nicht an einfache Antworten glauben. Wir glauben an Tiefe statt Lautstärke. An Haltung statt Hype. Unsere Bücher greifen gesellschaftliche Fragen auf, ohne sich auf eine Seite zu schlagen – sondern um die Dinge wirklich zu durchdringen.

Karolina Timoschadtschenko: Grau steht außerdem für Vielfalt: in Themen, Stimmen, Formen. »Schwarz« oder »Weiß« wäre eine Entscheidung für Eindeutigkeit und vielleicht sogar für Engstirnigkeit – aber wir stehen für Vielstimmigkeit, Tiefe und die Graustufen, in denen echte Auseinandersetzung möglich wird. Die spannendsten Geschichten entstehen eben dazwischen – im Unklaren, im Widerspruch, in den Zwischentönen. Genau dort, wo Perspektiven aufeinandertreffen, Reibung entsteht und neue Gedanken wachsen.

Nach welchen Kriterien wählen Sie Themen und Autoren für Ihr Label aus?

Karolina Timoschadtschenko: Wir greifen Themen auf, über die gerade viel gesprochen wird – in sozialen Medien, in Podcasts, in persönlichen Gesprächen. Dinge, die Menschen beschäftigen, aber im Buchmarkt oft noch nicht richtig angekommen sind. Uns interessieren vor allem gesellschaftliche Spannungsfelder: Tabus, Widersprüche, blinde Flecken. Also Themen, bei denen man sich fragt: Wieso gibt’s dazu eigentlich noch kein richtig gutes Buch?

Jonas Konrad: Wir arbeiten mit Autoren, die Haltung und etwas zu erzählen haben – nicht nur für den Moment, sondern darüber hinaus. Und wir suchen Texte, die klug sind, emotional, gerne auch streitbar – aber nie belehrend. Bücher, die etwas auslösen.

Was ist die größte Schwierigkeit, wenn man einen neuen Verlag auf dem Buchmarkt etablieren möchte?

 Karolina Timoschadtschenko: Die größte Herausforderung ist nicht die Sichtbarkeit im klassischen Sinne, denn wir arbeiten mit Autoren, die bereits eigene Communitys mitbringen. Was viel schwieriger ist: als Verlag inhaltlich ernst genommen zu werden. Wir wollen nicht einfach Bücher veröffentlichen, sondern eine Haltung, ein Profil transportieren – und das braucht Zeit. Vertrauen entsteht nicht über einzelne Titel, sondern über ein konsistentes Programm, über eine Haltung, die man spürt.

Jonas Konrad: In einem Markt, der stark von ökonomischer Logik geprägt ist, treffen wir mit unseren Werten – wie etwa Tiefe, Relevanz, auch Widerspruch – nicht automatisch auf offene Türen. Der Buchhandel, die Presse und auch Leser müssen sich auf diese Idee einlassen: dass ein Verlag nicht nur ein Vertriebskanal ist, sondern eine inhaltliche Einladung. Und das erfordert Überzeugungskraft. Nicht laut, aber klar. Nicht angepasst, aber anschlussfähig. 

Sie setzen bei Ihren Autoren vor allem auf Personen, dies sich online bereits eine große Community aufgebaut haben. Wie wichtig ist heutzutage die mediale Präsenz eines Autors für den Erfolg eines Buchs?

Jonas Konrad: Mediale Präsenz ist heute ein zentraler Erfolgsfaktor – gerade in einem Markt, in dem jede Woche hunderte neue Titel erscheinen. Wir arbeiten bewusst mit Social-Media-Künstlern zusammen, weil sie nicht nur kreative Inhalte schaffen, sondern auch ein tiefes Verständnis für ihre Zielgruppe haben und wissen, wie man Menschen erreicht und begeistert. Das ist ein riesiger Vorteil, auch für Bücher.

Karolina Timoschadtschenko: Aber Reichweite ist eben nicht der einzige Hebel. Uns interessiert auch: Bringt die Person Substanz mit? Hat sie etwas erlebt, durchdacht, erarbeitet, das anderen wirklich Mehrwert bietet? Nicht jeder mit großer Community hat automatisch auch ein fundiertes Wissen, eine spannende Perspektive oder eine Geschichte, die über den Social-Media-Moment hinausträgt. Reichweite hilft, klar – aber sie ersetzt keine Substanz und kein gutes Storytelling. Und vor allem: Sie garantiert keinen Erfolg. Bücher ticken anders als Algorithmen.

Wie hat sich das Verhältnis zwischen Autor und Verlag in den letzten Jahren verändert?

Jonas Konrad: Verlage müssen heutzutage mehr bieten! Es reicht nicht mehr, nur Lektorat und Vertrieb anzubieten. Gefragt sind strategische Beratung, Branding-Expertise und ein echtes Verständnis für die Dynamik digitaler Plattformen. Und vor allem braucht es ein Gespür dafür, wie sich starke Autorenmarken aufbauen, positionieren und langfristig in der Öffentlichkeit behaupten lassen.

Karolina Timoschadtschenko: Autoren sind Marken: Gerade im Social-Media-Zeitalter bringen viele ihre eigene Community, Vision und oft ein klares Selbstverständnis mit. Sie erwarten Mitgestaltung – nicht nur am Buchinhalt, sondern auch beim Cover, bei der Kommunikation, im Marketing.

Welche Rolle spielen KI-Tools im Buchmarkt? Sehen Sie eher Chancen oder Risiken?

Karolina Timoschadtschenko: Beides – aber die Chancen überwiegen, wenn man verantwortungsvoll damit umgeht. KI-Tools können Autoren beim Strukturieren und Recherchieren helfen. Das entlastet und schafft Raum für Kreativität. KI ist aus unserer Sicht ein Werkzeug, kein Ersatz für kreative Köpfe. Ein gutes Buch lebt von Persönlichkeit, Widersprüchen und Eigenarten – genau das kann KI nicht wirklich ersetzen. Wenn man sich zu sehr auf Tools verlässt, geht das Authentische verloren.

Jonas Konrad: KI kann dabei helfen, Zielgruppen besser zu verstehen und sie gezielter anzusprechen – zum Beispiel bei der Optimierung von Klappentexten oder bei der Auswahl von Coverdesigns. Was früher stark vom Bauchgefühl abhing, lässt sich heute mit Daten fundierter untermauern. Sie liefert keine Kreativität, aber sie kann helfen, sie besser zu platzieren.

LT

Bild: Hannah Löhr

Continue Reading

More in Unternehmen

To Top